Es ist sicher auch dieses, was einen guten Coach von anderen unterscheidet: Bei der ersten Begegnung mit anderen Menschen so unvoreingenommen wie möglich zu sein. Und sich nach und nach ein konkretes Bild zu machen. Kommt jemand zu mir, werte ich nicht. Aber ich sehe und höre genau hin. Aus meiner langjährigen Erfahrung heraus wage ich erste vorsichtige Annahmen zu Motiven und Persönlichkeitsstil.
Im Grunde ist es ja so, dass jeder, bewusst oder unbewusst, recht schnell etwas von sich selbst preisgibt. Das können die fünf Stockwerke zu meiner Praxis sein, die hochgelaufen werden, statt den Aufzug zu nehmen. Einfach nur sportlich oder doch schon zwanghaft? Ein anderes Beispiel: Jemand ist zu spät dran – ist es wirklich der Verkehr oder steckt eine innere Abwehr dahinter? Oder wird vielleicht schnell ein bestimmtes Thema angesprochen? Kinder und Familie etwa, ein Hobby oder Berufliches? Das sind für mich die Stichpunkte, bei denen ich näher nachfrage. In der Regel baut sich so ein erstes Vertrauensgefühl auf. Und das ist es, was ich brauche – ich muss erst etwas einzahlen auf das „Beziehungskonto“ meines Klienten. Damit ich anschließend wieder einiges davon abbuchen kann. Denn eines ist sicher, ich werde im Laufe des Coaching-Prozesses an manchen Stellen unbequem.
Annahmen bilden und Stressfaktoren definieren
Es gibt Coachees, die mit ihrer ganzen Haltung und bestimmten Äußerungen sehr deutlich ausdrücken: Sprich mich bloß nicht auf meine Themen an! Interessant: Das macht es mir relativ leicht, eine Idee für den Persönlichkeitsstil oder für die Motive meines Gegenübers zu entwickeln. Grenzen sollen nicht überschritten, der Abstand gewahrt werden. Eine erste Annahme: Es könnte sich um den Glaubenssatz „Sei unabhängig von anderen“ handeln. Soweit erst einmal durchaus positiv. Zum Stressfaktor wird der Glaubenssatz, wenn der Anspruch an die eigene Person zu hoch ist. Ein möglicher Auslöser: In der Kindheit wurde die Grenze der Belastbarkeit überschritten.
Hier gehe ich besonders geduldig und vorsichtig vor, taste mich langsam heran, um meine Möglichkeiten, mit dem Coachee zu arbeiten, auszuloten. Zugegeben, doch nicht immer ganz einfach. Was es jetzt braucht, ist vor allem ein wirklich gut aufgestellter Beziehungskredit. Nur so kann auf Sicht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Autonomie und Bindung entstehen – als Basis für die Coach-Coachee-Beziehung.